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Tiergarten-Mord: Amira T.s letzte Minuten mit ihrem Vater - WELT

Amira T. kam gegen 11.50 Uhr gerade aus der Berufsschule nach Hause, als ihr Vater im Flur stand und sich bereit machte, die Wohnung in Berlin-Moabit zu verlassen. „Er fragte, wie es in der Schule war und dass er in die Moschee geht, aber noch was zu tun hat“, erinnert sich die Zeugin. Es war Freitag, der 23. August 2019, und Selimchan Changoschwili wollte um 13 Uhr zum Freitagsgebet.

Die 18-Jährige beantwortet mit leiser, kaum verständlicher Stimme auf Russisch die Fragen des Vorsitzenden Richters Olaf Arnoldi im Kriminalgericht Moabit. Zwei oder drei Minuten sprachen sie und ihr Vater miteinander, während er sich die Schuhe zuband – und schließlich verabschiedete. Es sollte das letzte Mal sein, dass Amira T. ihren Vater lebend sah.

Direkt in den Tod gelaufen

Gegen 18 Uhr erfuhr Amira T. dann von der Lebensgefährtin ihres Vaters, dass gegen 12 Uhr ein Tschetschene im Kleinen Tiergarten ermordet worden sei. Dies habe sie über Facebook erfahren, von wem oder welchem Portal, erinnere sie sich nicht mehr. Die Lebensgefährtin sei dann zum Tatort gelaufen. „Es war ja nicht weit weg. Und dann kam sie zurück und meinte, es sei mein Vater.“

Der Tschetschene mit georgischem Pass war damals von seiner Wohnung im Lübecker Weg gegen 12 Uhr direkt in seinen Tod gelaufen. In der nahegelegenen Parkanlage hatte sich ihm ein Mann auf einem Fahrrad genähert. Der mutmaßliche Täter soll drei Schüsse mit Schalldämpfer abgefeuert haben, zwei davon in den Kopf des 40-Jährigen. Zeugen hatten im Prozess eine Art Hinrichtung geschildert. Der Verdächtige, der zunächst mit einem Fahrrad flüchtete, wurde wenig später am Spreeufer gefasst.

Quelle: Infografik WELT

Bei dem sogenannten Tiergarten-Mord handelt es sich nicht um einen einfachen Mord. In dem Prozess, für den 24 Verhandlungstage angesetzt sind, geht es um nichts weniger als den Vorwurf des Staatsterrorismus. Der Getötete soll im zweiten Tschetschenienkrieg gegen die Russische Föderation gekämpft haben, der Fall ist hochpolitisch. Und so geht es in den Verhandlungen um weitere Details. Hatte der Ermordete eine Verabredung, zu der er noch vor dem Moscheebesuch gehen wollte?

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Tatsächlich nahm Changoschwili nicht den kürzesten Weg zur Moschee in Richtung Norden, sondern nach Erkenntnissen der Polizei in die andere Richtung zum Kleinen Tiergarten. Ob seine Tochter das bemerkt habe, will der Richter wissen. Amira T. schüttelt den Kopf. Sie selbst sei nie in der Moschee gewesen, hatte nicht gesehen, wo der Vater hingegangen sei: „Er hatte ja noch eine Stunde Zeit bis zum Freitagsgebet um 13 Uhr.“

Fragwürdige Identität des Angeklagten

Nach früheren Aussagen der Kriminalpolizei habe Changoschwili vorgehabt, an diesem Tag die Frau des georgischen Ex-Präsidenten Michail Saakaschwili zu treffen. Seine Tochter sagte, er habe zuvor einmal erwähnt, es solle Besuch aus dem Ausland kommen, aus Georgien. Doch Namen kannte sie nicht. Häufig sei ein Mann namens „Arthur“ bei ihrem Vater und dessen Lebensgefährtin zu Besuch gewesen.

Khangoshvili wurde mitten am Tag in der Nähe eines Park-Cafés erschossen. Zeugen schreckten den Täter offenbar nicht ab
Das Opfer wurde mitten am Tag in der Nähe eines Park-Cafés erschossen. Zeugen schreckten den Täter offenbar nicht ab
Quelle: Christian Schweppe

Viel mehr Hintergründe können ihr die Richter des zweiten Strafsenats des Kammergerichts am Dienstag nicht entlocken. Amira T. verlässt den Zeugenstand und geht zu ihren Verwandten im Saal, denn sie ist nicht nur Zeugin, sondern auch Nebenklägerin im Prozess. Eine von acht.

Der mutmaßliche Täter sitzt ihnen gegenüber. Der Russe Vadim Krasikov ist des Mordes aus Heimtücke oder Habgier angeklagt und verfolgt auch den heutigen Verhandlungstag im Hochsicherheitssaal 700 des Berliner Landgerichts hinter Panzerglas weitgehend regungslos.

Krasikov, der auf früheren Polizeifotos mit Glatze und Dreitagebart zu sehen ist, trägt inzwischen dunkles, kurzes Haar. Das Gesicht wird von einem weißen Mund-Nasen-Schutz verdeckt. Der 55-Jährige soll mit einer professionell ausgestellten Tarnidentität unterwegs gewesen sein. Er selbst behauptet, er heiße Vadim Sokolov, sei 50 Jahre alt und Bauingenieur.

Offenbar gab es Pläne, dass er im Gefängnis vergiftet werden sollte. Dies berichtet ein weiterer Zeuge, der an diesem Verhandlungstag gehört wird, der Kriminalhauptkommissar, der Krasikov im Herbst 2019 vernommen hatte. Wegen der Gefahrenlage sei Krasikov von der JVA Moabit in ein Haftkrankenhaus verlegt worden, obwohl er gesund war.

Er selbst habe ihn zusammen mit einer Kollegin warnen wollen; die Informationen, dass Krasikov vergiftet werden sollte, seien über einen der Geheimdienste und „irgendwie vom BKA“ gekommen, meint der Polizist. Dies sei auch der Grund, warum in den Akten nichts von einem Vergiftungshinweis stehe. Von der Gefährdungslage habe Krasikov bei seinem Besuch anscheinend schon gewusst: „Er hatte keine Angst, das hat ihn gar nicht weiter interessiert“, erinnert sich der Kommissar.

Spion in der Ukraine

Laut Anklage des Generalbundesanwalts soll Krasikov den Mordauftrag von staatlichen Stellen der Zentralregierung der Russischen Föderation erhalten haben. Die Ermittlungsstränge führen über Paris und Warschau nach Moskau, Sankt Petersburg und zum russischen Geheimdienst FSB. Fotos von Überwachungskameras, die den Angeklagten in Flughäfen und Hotels auf seinem Weg nach Berlin zeigen sollen, dienen der Beweisaufnahme.

Nach den jüngsten Recherchen von WELT AM SONNTAG stand das Opfer Changoschwili zusammen mit 18 anderen Männern auf einer Todesliste des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Ziel ist demzufolge ein Rachefeldzug gegen tschetschenische Gegner im Exil. Neben Berlin waren die Tatorte der vergangenen Jahre Istanbul und Kiew.

Der in Berlin ermordete Changoschwili war ein entschlossener Gegner von Putins Russland. Er überlebte 2015 einen Anschlag in Tiflis und floh 2016 nach Deutschland. Hier beantragte er Asyl. Die hiesigen Sicherheitsbehörden kannten seinen Namen also seit Jahren – und womöglich auch seine Bedrohungslage. Vieles deutet bei dem Mord auf eine Racheaktion des russischen Staates an einem Mann hin, den Putin selbst zu einem Terroristen erklärt hat.

Wer besorgte die Tatwaffe?

Das Berliner Kammergericht muss nun in einer Mordsache entscheiden, die vermutlich erhebliche Auswirkungen auf das deutsch-russische Verhältnis haben wird. Dass der Angeklagte allein handelte, gilt als ausgeschlossen. Fraglich ist aber noch, wer Changoschwili ausgespäht hatte. Und auch, wer Krasikov die Tatwaffe besorgte sowie das Fahrrad und den E-Scooter präpariert hatte. In einem gesonderten Verfahren soll die Rolle bislang unbekannter Dritter ermittelt werden.

Das Urteil der Richter wird in wenigen Wochen erwartet. Die Bundesregierung hatte Reaktionen direkt mit dem Ausgang dieses Verfahrens verknüpft, denn immerhin soll ein politischer Gegner auf deutschem Boden ermordet worden sein.

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