Kitas und Schulen auf, und zwar so schnell wie möglich? Sollte wegen der zahlreichen Virusmutationen im Gegenteil der Distanzunterricht besser gleich bis nach Ostern ausgedehnt werden? Was ist zu halten von Präsenzstunden nur in Regionen, wo die Inzidenz stabil unter 50 liegt, oder nur für Grundschulkinder und Abschlussklassen?
Während Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) für denkbar hält, dass noch in diesem Sommer auch für Kinder ein Impfstoff zur Verfügung stehen könnte, der die Lage von Grund auf ändern würde, nimmt die Diskussion um das richtige Konzept für Unterricht und Kita-Betreuung wieder mächtig Fahrt auf. Kurz vor der nächsten Besprechung der Kanzlerin mit den Ministerpräsidenten über die Corona-Maßnahmen am Mittwoch mehren sich die Stimmen jener, die ein rasches Handeln fordern.
Zu ihnen gehört Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD), die mit Blick auf sinkende Infektionszahlen im RBB-Inforadio Reaktionen verlangte: „Wenn es weiter in diesem positiven Sinne geht, dann finde ich schon, dass auch im Februar noch zumindest eine schrittweise Lockerung passieren sollte.“
Auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer widersprach Kanzlerin Angela Merkel (beide CDU), die mit Blick auf mögliche Lockerungen vor „falschen Hoffnungen“ gewarnt hatte: Er werde die Kindergärten öffnen und die Jüngsten wieder in die Schulen lassen, „sobald es das Infektionsgeschehen zulasse“, so Kretschmer. Das halte er im Übrigen auch für ganz Deutschland für geboten. „Ich teile nicht die Meinung, dass wir überhaupt nichts lockern können“, kritisierte er in der „Leipziger Volkszeitung“ die strenge Linie des Kanzleramts.
Dorthin zog es am Sonntagvormittag trotz eisiger Kälte und Schneefall einige Demonstranten, um den Druck im Kessel noch einmal zu erhöhen. Mit Plakatsprüchen wie „Alle Kinder sind systemrelevant“ und „Kitas auf für alle“ forderte die „Initiative Familien“ die Politik auf, eine schnellstmögliche Rückkehr in Schulen und Kitas zu sichern – mit Infektionsschutz und sorgfältigem Corona-Monitoring.
Hessens Sozialministerium warnte derweil, dass bei den von der Lage gestressten Kindern und Jugendlichen tatsächlich bereits erste Anzeichen für Zukunftsängste, psychische Auffälligkeiten wie Hyperaktivität, emotionale Schwierigkeiten oder Verhaltensprobleme zu beobachten seien. Und der Deutsche Städtetag plädierte dafür, Lehrer und Erzieher früher als bisher geplant zu impfen.
Auch die Fraktionen im Bundestag sehen fast einhellig die Notwendigkeit, Eltern, Kindern, Lehrern und Erziehern zumindest eine klare Perspektive zu bieten. Gegenüber WELT forderte FDP-Fraktionsvize Katja Suding, vor allem Grundschulen und Kitas kurzfristig wieder zu öffnen. „Wir dürfen Schüler und ihre Eltern mit den erheblichen Belastungen von Homeschooling, Homeoffice und Hausarbeit nicht länger alleinlassen.“ Gerade für jüngere Kinder aus benachteiligten Familien sei das Lernen in Präsenz unersetzbar. „Jeder Tag zählt, Lernrückstände werden für viele Kinder sonst kaum mehr aufholbar sein.“
SPD-Fraktionsvize Katja Mast verlangte ebenfalls, der Situation von Familien und Kindern bei möglichen Lockerungen oberste Priorität einzuräumen. „Es sind die Familien, die dieses Land durch die Pandemie tragen.“ Klar sei aber auch, dass bei den Öffnungen ein stufenweises Vorgehen nötig sei.
Die AfD wiederum würde begrüßen, wenn alle Schulen und Kitas „möglichst bald“ öffnen würden. Viele hätten bereits erfolgreiche Modelle entwickelt, um einen Betrieb auch unter Einhaltung von Abstands- und Hygieneregeln durchzuführen, sagte der bildungspolitische Sprecher der Fraktion, Götz Frömming. „Pauschale langfristige Schulschließungen sind für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen katastrophal und müssen schnellstmöglich beendet werden.“
Wie die Gegner der Öffnung argumentieren
Allerdings gibt es auch weiterhin große Bedenken. So hält Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) die Öffnung von Schulen grundsätzlich für verfrüht und allenfalls in Ausnahmen für möglich. Auf längere Sicht könne lediglich in Regionen, die stabil nur noch eine geringe Inzidenz hätten, an Präsenzunterricht gedacht werden – und dann auch nur mit reduzierten Klassen, angepasster Stundenzahl und zunächst ausschließlich für Grundschulkinder und Abschlussjahrgänge. „Die Lage sollte nach dem 14. Februar zumindest noch ein bis zwei weitere Wochen beobachtet und danach wieder neu bewertet werden“, sagte sie der Funke-Mediengruppe.
Die Virologin Melanie Brinkmann hatte im „Spiegel“ sogar ausdrücklich vor jeglicher Öffnung gewarnt. Sämtliche Schulen müssten zunächst noch ganz geschlossen bleiben, „sonst kriegen wir sie wegen der ansteckenderen Varianten sehr, sehr lange nicht mehr richtig geöffnet“. Auch der Chef der Ministerpräsidentenkonferenz, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD), warnte vor einer möglichen dritten Welle.
Und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt hält es sogar für denkbar, lieber erst die Friseure zu öffnen als die Schulen. „Wenn man über die Reihenfolge von Lockerungsmechanismen diskutiert, muss nicht zwingend die Schule zu Beginn stehen“, sagte er dem „Münchner Merkur“. „Ein mögliches Infektionsgeschehen in den Schulen stellt aus meiner Sicht kein unwesentliches Risiko dar.“
Die stellvertretende Unionsfraktionschefin Nadine Schön (CDU) hält eine reine Öffnungsdiskussion angesichts der „fragilen Lage“ ebenfalls für „völlig fehl am Platz“: „Schulen dürfen nicht Hals über Kopf geöffnet werden, sondern mit Sinn und Verstand.“ Stufenöffnungspläne allein seien aber nicht ausreichend; es brauche auch Begleitmaßnahmen, darunter ein umfassendes Testkonzept. „Es reicht nicht, dass die Bundesfamilienministerin umfassende Testungen in Stufenplänen lose in Aussicht stellt. Bund, Länder und Kommunen müssen entsprechende Konzepte vorbereiten und umsetzen.“
Dabei sollten die Bundeswehr und Hilfsorganisationen helfen, solange es noch keine Möglichkeiten zur Eigentestung gebe. „Es wäre fatal, in den kommenden Tagen Kitas und Schulen hektisch zu öffnen, nur um sie kurz danach wieder schließen zu müssen.“
Auch die Linke-Fraktion sieht in einer überhasteten Entscheidung eher ein Risiko denn Vorteile: Der gesundheitspolitische Sprecher Achim Kessler fordert von der Bundesregierung ein transparentes, gesetzlich geregeltes Verfahren, damit allen klar sei, bei welchen Werten welche Maßnahmen ergriffen und wieder aufgehoben werden müssten. „Entscheidungen nach Stimmungslage müssen ein Ende haben.“
Auch die Interessenvertreter treten auf die Bremse. Öffnungen seien „nur stufenweise sehr behutsam und vorsichtig, auf keinen Fall flächendeckend in allen Regionen möglich“, sagte Hans-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, WELT. Dass sich landesweit einheitliche Öffnungen verböten, mache das Beispiel Bayern deutlich: Dort gebe es Landkreise mit Inzidenzen von 20 und andere mit 350.
Der Verband fordert daher einen am regionalen Infektionsgeschehen orientierten Hygienestufenplan, der klar regelt, welcher Schulbetrieb möglich ist. Bei weniger als 50 Infektionen pro 100.000 Einwohnern in den vergangenen sieben Tagen befürwortet der Lehrerverband eine stufenweise Rückkehr in den Wechselbetrieb, also mit Mindestabstand und halbierten Gruppen, und das vorrangig für Grundschulen sowie Abschlussklassen.
„Ansonsten sollte im Distanzunterricht verblieben werden, der derzeit übrigens deutlich besser läuft als noch im Frühjahr. Das ergibt zwar auch wieder einen Flickenteppich, aber einen, der wissenschafts- und inzidenzbasiert ist“, so Meidinger.
Außerdem sollten Lehrkräfte frühestmöglich geimpft, Schülern und Lehrer im Wochentakt mit Schnelltests kontrolliert und Klassenräume durch Luftfilteranlagen sicherer gemacht werden. Auch eine FFP2-Maskenpflicht für Lehrkräfte und mindestens eine Operationsmaske für Schüler hält er für sinnvoll.
Drosten dämpft Erwartungen bei Kinder-Impfstoff
Spahn hatte am Freitag in einer Konferenz-Schalte mit der hessischen CDU einen möglichen Impfstoff für Kinder und Jugendliche noch für Sommer in Aussicht gestellt: „Wir gehen davon aus, toi, toi, toi, wenn die Dinge gut laufen, dass wir im Sommer auch einen Impfstoff haben, der eben dann Kinder und Jugendliche schützen kann.“ Das Vakzin von Biontech sei derzeit erst ab 16 Jahren zugelassen, die beiden anderen Impfstoffe von Moderna und AstraZeneca ab 18 Jahre.
Doch der Virologe Christian Drosten dämpfte in seinem jüngsten NDR-Podcast Hoffnungen auf eine so frühe Verfügbarkeit: Lediglich der Biontech-Impfstoff werde zurzeit überhaupt bei Kindern zwischen fünf und zwölf Jahren getestet; die beiden anderen Vakzine seien bei Probanden ab zwölf Jahren im Test. Vorausgesetzt, bis im Sommer stünden Daten zur Verfügung, „kann man damit rechnen, dass über den Herbst hin eine Zulassung erfolgt und dass man dann Kinder impfen kann“.
Ob eine solche Impfung überhaupt sinnvoll sei, wollte Drosten nicht bewerten. Überzeugt ist er nach der Sichtung neuester Studien, unter anderem aus Großbritannien und Österreich, von einem: „Schüler haben die gleiche Infektionshäufigkeit wie der Rest der Bevölkerung.“
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