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Der Gesundheitsminister hält Hof – und erteilt sich die Absolution - FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung

Wer diese Woche Angela Merkel im ARD-Interview gesehen hat, dürfte seinen Augen und Ohren nicht getraut haben. Im Großen und Ganzen sei nichts schiefgelaufen, gab die Bundeskanzlerin zum Besten. Zwar war die Formulierung vor allem auf die Impfstoff-Beschaffung gemünzt, aber weder dort noch in der übrigen Corona-Politik werden viele Menschen in Deutschland diese Sichtweise der Regierungschefin teilen.

Das Vertrauen der Menschen in die Regierung sinke aktuell stark, stellte denn auch Cornelia Betsch gleich zu Beginn der Sendung von Anne Will fest. Befürworteten im vergangenen März noch 60 Prozent der Bevölkerung die Corona-Maßnahmen, seien es derzeit lediglich noch 40 Prozent, referierte die Professorin für Gesundheitskommunikation an der Universität Erfurt ihre Untersuchungen. Ihre Diagnose: Das Vertrauen sinkt, während allgemeine Corona-Müdigkeit wie auch die psychischen Belastungen der Bevölkerung steigen. Dabei würde den Menschen zwei simple Dinge schon helfen: Einheit und Einfachheit der Regeln. In Bezug auf die Bundesregierung sagte Betsch: Jede andere Strategie wäre besser.

Wow. Es ist ein Auftakt mit Tusch, der Kontrast zur Bundeskanzlerin könnte kaum größer sein.

Auch Anne Will stand an diesem Abend zumindest mit dem Sendungstitel näher bei Frau Betsch als bei der Kanzlerin: „Schwindendes Vertrauen ins Corona-Krisenmanagement – was muss jetzt passieren?“, überschrieb das Produktionsteam die Talkshow. Angesichts des bevorstehenden Bund-Länder-Gipfels am kommenden Mittwoch wartet wohl jeder auf entsprechende Antworten der Verantwortlichen. An diesem Abend waren das neben Cornela Betsch aus Erfurt und dem Journalisten Georg Mascolo vor allem Manuela Schwesig (SPD-Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern), Ralph Brinkhaus (Unionsfraktionsvorsitzender im Bundestag) sowie Sahra Wagenknecht von der Linken. Als besonderes Highlight war zudem Gesundheitsminister Jens Spahn zugeschaltet – und zwar zum Einzelinterview. Aber dazu später mehr.

Deutsche Selbstgefälligkeit

Georg Mascolo befeuerte zunächst den heißen Auftakt von Betsch noch weiter, indem er klarstellte, wie die deutsche Politik durch ihre Selbstgefälligkeit in der ersten Phase der Pandemie („Pandemie-Weltmeister“) und im Sommer („das kann ja niemand besser als wir“) wichtige Zeit im Kampf gegen Corona verschenkte. Nun treffe uns die Pandemie tatsächlich mit voller Härte. „Und wo wir jetzt, wenn wir ehrlich sind, noch nicht einmal sagen können, ob wir das Schlimmste hinter uns haben oder ob wir das Schlimmste noch vor uns haben.“ Und so drängt sich die Frage der Sendung auf: Was muss jetzt passieren?

Sahra Wagenknecht von der Linken machte den Anfang und forderte gezieltere Maßnahmen. So seien beispielsweise Restaurants doch keine Infektionsherde und könnten deshalb wieder geöffnet werden. Auch habe man den Einzelhandel zwangsweise geschlossen, während sich die Logistikzentren des Pandemie-Gewinners Amazon als Corona-Hotspots entpuppt hätten.

Von den in Regierungsverantwortung stehenden Teilnehmern bekam schließlich der Unionsfraktionsvorsitzende Ralph Brinkhaus als Erster die Gelegenheit für Klarheit zu sorgen – und eventuell etwas Hoffnung und Zuversicht bei den Menschen zu wecken. Doch Brinkhaus hatte an diesem Abend vor allem einen riesigen Strauß von Allgemeinplätzen mitgebracht. Man müsse Dinge im Kontext sehen. Aus der Rückschau betrachtet hätte man das Ein oder Andere sicherlich anders machen können. Wir müssen ja nach vorne schauen. Und: Da müssen wir dran arbeiten.

Kurze Zwischenfrage an dieser Stelle: Ist Ihnen noch klar, worüber dieser Mann da spricht? Geht es um seine Leistung im letzten Bundesligaspiel, um die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes oder doch um die Corona-Politik der Bundesregierung?

Lockdown soll verlängert werden

Zwischen all diesen Nebelkerzen ließ Brinkhaus dann noch tatsächlich wichtige Informationen ganz beiläufig im Nebensatz fallen, beispielsweise, dass man für Mittwoch (also beim nächsten Bund-Länder-Gipfel zur Corona-Politik) die Entscheidung anstrebe, den Lockdown nochmals einige Wochen weiterzuführen. An dieser Stelle war nun klar: Der Mann spricht doch von der Corona-Pandemie. Und seine neuen Ideen für die kommenden Wochen ist ein plumpes „weiter so“. Anne Will machte dabei auch nicht die beste Figur: Weder unterbrach sie die Brinkhaus‘schen Floskeln, noch hakte sie bei der beiläufigen Lockdown-Verlängerung nach.

Aber an diesem Abend waren ja noch weitere Verantwortliche in der Sendung zu Gast, wie etwa Manuela Schwesig, die SPD-Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern. Sie glänzte vor allem mit Ausführungen darüber, wie gut die Politik in ihrem Bundesland die Pandemie durch eigene Maßnahmen meistere. Eigenlob ist ihr gutes Recht als Ministerpräsidentin, aber ihre Hinweise auf eigene Wege und Vorgaben passte so gar nicht zu ihrer Forderung nach einem bundeseinheitlichen Maßnahmenkatalog. Dieser akrobatische Argumentations-Spagat gelang Schwesig jedoch gleich mehrmals, meist sogar innerhalb weniger Worte.

Highlight Einzelinterview

Bliebe aus der Reihe der Verantwortlichen noch der vermeintlich wichtigste Protagonist: Gesundheitsminister Jens Spahn. Spahn unterstrich seine Sonderrolle nicht nur durch sein Aufgabenfeld als in der Pandemie federführender Minister sondern zusätzlich in der Talkrunde durch das Konstrukt „Einzelinterview“. Das bedeutete offenbar, dass nur Anne Will ihm Fragen stellen durfte und er auch nur ihr antwortete. Aber gut, die langjährige Journalistin wird genug Stoff haben, um den Minister in die Verantwortung zu nehmen. Könnte man denken. Doch dann hätte man sich an diesem Abend geirrt.

Es folgten handzahme Minuten, in denen der Minister sich und seiner Corona-Politik in aller Seelenruhe die Absolution erteilen konnte. Zum Beispiel: Politik-Wirrwarr und immer wieder neue Ziele? Nein, davon kann laut Spahn nicht die Rede sein. Das Grundziel sei immer gleich gewesen, nämlich die Zahl der Infektionen zu senken damit das Gesundheitssystem nicht überlastet werde. Ob das nun eine Inzidenzwert von 100, 75, 50, 20 oder 10 sei – allzu konkret muss man sich ja nun nicht festlegen. Genaues weiß man jedenfalls nicht. Hauptsache niedrig.

Und die Dauer des Lockdowns: Den werde man bestimmt nicht den Winter lang durchhalten können. Also wie lange? Ende März sei sein Winter zu Ende, so Spahn. Aber bis nächsten Sonntag werde man das Ziel sicherlich noch nicht erreicht haben. Selbst die Probleme bei der Impfstoffbeschaffung wurden von Spahn in Wohlgefallen umgewandelt: Es sei richtig, diesen auf EU-Ebene zu beschaffen – und dort dauere es eben etwas länger.

Dann verwies Spahn noch auf ein Interview des Biontech-Finanzvorstands Sierk Poetting, wonach zu Beginn der Pandemie auch mehr Geld oder mehr Produktionsstätten keine Verbesserung der Lage bewirkt hätten. Anne Will lässt auch diese Ausführung völlig unkommentiert durchgehen. Doch wenn es tatsächlich überhaupt keine Probleme geben sollte, warum fordert dann Spahn selbst andernorts Exportkontrollen für Impfstoffe? Und warum haben sich andere Regierungen Kaufoptionen auf alle erwartbaren Präparate gesichert? Die britische Regierung soll sich allein von Biontech/Pfizer mehr Impfdosen gesichert haben als die gesamte Europäische Union zusammen. Der Zuschauer wird all das an diesem Abend nicht erfahren, denn Anne Will hat nur noch einen herzlichen Dank für Jens Spahn übrig.

Den Blick geweitet

Georg Mascolo hingegen nannte den Themenkomplex Impfstoff ein überaus bedrückendes Kapitel. Bill Gates habe im Frühjahr gesagt, die Staaten der Welt sollten dafür viel Geld in die Hand nehmen und die Entwicklung des Impfstoffes nicht der freien Wirtschaft überlassen. Selbst wenn so manche Fehlinvestition dabei sein könnte, so zitiert Mascolo den Microsoft-Gründer, wäre es in diesem Pandemiefall wohl die beste Fehlinvestition, die man tätigen könne. Zudem weitete Mascolo den Blick über die deutschen und europäischen Grenzen hinaus und appellierte daran, in der Pandemie nicht nur an sich selbst zu denken. Man dürfe die ärmeren Länder der Welt nicht vergessen – sei es aus medizinischen Gründen im Hinblick auf mögliche Mutationen oder schlichtweg auch im Sinne der Humanität. Schließlich werde es auch eine Zeit nach der Pandemie geben.  

Und so endet ein spezieller Talkabend bei Anne Will mit einem nachdenklich stimmenden Appell. Die Diskussion mit Ralf Brinkhaus und Manuela Schwesig davor war überaus ernüchternd. Es ist erstaunlich, wie wild völlig nichtssagende Floskeln in so kurzer Zeit wuchern können.

Doch das Einzelinterview des Gesundheitsministers übertraf nochmal alles: Das Vertrauen der Bevölkerung in die Corona-Politik sinkt – und der wichtigste Minister antwortet nur Anne Will.

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