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Bundestagswahl 2021: Die Linke treibt die Angst vor dem Abgrund - WELT

Gleich am Anfang wird deutlich, wie groß der Druck ist: Ihre Parteitagsrede beginnt die Linke-Chefin Susanne Hennig-Wellsow nicht damit, Erfolge zu benennen, ihre Partei oder sich selbst zu loben, sondern mit der Beschreibung der gedrückten Stimmung: „Ich spüre natürlich, dass es eine gewisse Angst oder Furcht gibt, dass wir das alles nicht schaffen“, sagt die 43-Jährige am Samstag in Berlin während der hauptsächlich digital stattfindenden Delegiertenversammlung.

Sie nahm damit Offensichtliches vorweg: Der Zustand der Linkspartei ist kurz vor der Bundestagswahl desolat, der avisierte Aufbruch ausgeblieben. „Wir gehen nicht zu Boden“, versprach Hennig-Wellsow ihren Mitstreitern. Es sollte wohl aufmunternd klingen. Dabei zeigt der Satz, wie sehr die Linke in die Defensive geraten ist.

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Eigentlich sollte der Parteitag das Startsignal für einen historischen Wahlkampf sein. An dessen Ende – so lautete die mantrahaft wiederholte Erzählung der Partei in den vergangenen Monaten – könnte ein Machtwechsel mit einer linken Mehrheit stehen.

2021 sei das wenig Wahrscheinliche möglich. Der Abgang von Angela Merkel (CDU), die Corona-Krise und der Klimawandel weckten das Bedürfnis einer Zeitenwende in der Bevölkerung – aus Sicht der Partei eine einzigartige Möglichkeit, endlich durchzudringen mit dem Ruf nach einem „sozialökologischen Systemwechsel“.

Statt Revolutionsböen weht drei Monate vor der Bundestagswahl im September aber eher ein laues Lüftchen der Sorge durch die Reihen der Linken. Seit Wochen sehen die Umfragen die Partei bei sechs bis sieben Prozent. Weit entfernt vom zweistelligen Wahlziel und dem Ergebnis 2017 mit 9,2 Prozent. Dafür umso näher an einem absoluten Tiefpunkt seit der Fusion von PDS und WASG – noch nie lag die Partei seit ihrer Gründung im Jahr 2007 bei einer Bundestagswahl unter acht Prozent.

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Und es könnte noch schlimmer kommen: Berücksichtigt man die Fehlertoleranz der Umfragen, ist es durchaus möglich, dass die Linke aus dem Parlament fliegt. Dann könnte die Partei nur noch auf eine einstellige Anzahl von Direktmandaten hoffen.

Co-Parteichefin Janine Wissler bezeichnete dies im Interview mit WELT vergangene Woche als „nicht realistisch“. Dennoch erklärt die Drohkulisse die Disziplin der hauptsächlich digital zugeschalteten Delegierten. Knapp 1200 Änderungsanträge waren in der Bundeszentrale eingegangen, etwa 1000 davon räumte der Parteivorstand teils in Nachtsitzungen schon vorher ab.

Zwar äußerten insbesondere unbekanntere Delegierte während der Generaldebatte zu zentralen Wahlkampfthemen ihren Unmut. Einerseits über Sahra Wagenknechts Buch, in der sie mit der Linken hart ins Gericht geht und ihr Selbstgerechtigkeit vorwirft. Andererseits über den Kurs der Parteiführung, der einen deutlichen Fokus auf Klimapolitik setzt und von Kritikern als aussichtslose Nachahmung von Grünen-Programmatik gesehen wird. Besonders die bekannteren Gesichter riefen zu Einigkeit auf.

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In ihrer Rede, die sie frei hielt, sprach Hennig-Wellsow auch die internen Querelen an: „Es bringt niemandem 150 Euro mehr Hartz IV, wenn wir uns streiten“, sagte sie. „Wenn wir uns auseinanderdividieren. Wenn wir glauben, nicht mehr zu der gleichen Partei zu gehören.“ Zusammenhalt beschwören und deutlich machen, dass der politische Gegner außerhalb der Partei steht – das ist schon seit Monaten das Mantra der Parteispitze.

Allerdings war das öffentliche Bild in den vergangenen Wochen von Streit geprägt. Im Saarland fetzten sich Partei-Veteran Oskar Lafontaine und der dortige Landeschef Thomas Lutze so sehr, dass Ersterer öffentlich dazu aufrief, Lutze – und damit indirekt die Linke – nicht zu wählen.

In Nordrhein-Westfalen stellten Parteimitglieder einen Antrag auf ein Ausschlussverfahren gegen Sahra Wagenknecht wegen ihrer innerparteilich umstrittenen Thesen. Zwar stellte sich die Fraktions- und Parteispitze ungewohnt einig und schnell hinter sie. In der Öffentlichkeit blieb trotzdem der Eindruck der zerstrittenen Linken.

Auseinandersetzungen offenbaren Fehler der Vergangenheit

Sie habe am Vortag Oskar Lafontaine getroffen, „aus der tiefen Überzeugung, dass wir miteinander reden müssen“, erzählte Hennig-Wellsow. Was dort genau besprochen wurde, behielt sie für sich. Stattdessen schwor sie die Genossen ein: „Wir sind eins. Und es gibt keine zwei Parteien.“

Doch dass Auseinandersetzungen im Wahljahr überhaupt in diesem Maße an die Öffentlichkeit dringen, offenbart die Fehler der Vergangenheit: Der Meinungspluralismus wird zur Schwäche, weil die Linke es verpasst hat, entscheidende Richtungsfragen zur Abstimmung zu stellen. Die Grundsatzdebatten, etwa über Außen- und Migrationspolitik sowie die Frage der Fokussierung auf Klimapolitik und identitätspolitische Fragen, laufen weiter, verhindern ein klares Profil. So verharrt die Partei in einer Art Limbo, einem ständigen Dazwischen, in dem der Wähler bestenfalls erahnen kann, wofür sie steht.

Hinsichtlich der Wähleransprache gab sich Hennig-Wellsow selbstkritisch. Sozial benachteiligten Menschen sei nicht mit Floskeln und Versprechen geholfen. Sondern mit einer Partei, die sie ernst nehme und ins Zentrum der Politik stelle. „Und da gebe ich zu: Da sind wir nicht. Aber wir bemühen uns jeden Tag.“

„Akademische Debatten, die an ihrer Lebensrealität vorbeigehen“

Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt erlebt die Linke mit nur 11 Prozent einen starken Stimmenverlust. Die ehemalige Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht sieht das Problem vor allem im schlechten Bundestrend der Partei.

Quelle: WELT

Mit Bemühungen dürfte Hennig-Wellsow die Erwartungen mancher Genossen allerdings kaum erfüllen. Nicht wenige hatten nach ihrer Wahl im Februar gehofft, die Machtarchitektin aus Thüringen würde inhaltlich für mehr Klarheit sorgen.

Doch gleich zwei unsouveräne Auftritte in Interviews zu Beginn ihrer Amtszeit sorgten für Ernüchterung und untergruben ihre Autorität. In den Wahlkampf führen nun Co-Chefin Wissler und Fraktionschef Dietmar Bartsch, die am Sonntag auf dem Parteitag sprechen.

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Die Parteispitze macht aber nicht nur den internen Streit für die dümpelnden Umfragen verantwortlich, sondern auch die derzeitige politische Stimmung. So sprach Hennig-Wellsow davon, dass das „progressive Lager grundsätzlich unter Beschuss gerät. Seien es die Grünen, sei es die SPD oder seien wir es.“ Das überrasche sie allerdings nicht, sagte Hennig-Wellsow und rief den Delegierten entgegen:

„Scheißt doch drauf, was wir für Widerstand kriegen. So what? Is’ halt so. Damit müssen wir leben.“ Nur wer voranschreite, ernte Widerstand. „Wir sind stolz darauf, dass die rechte Presse, dass die rechte Politik gegen uns wettert, schimpft, uns versucht auszubremsen. Uns wird das nicht halten.“ Was sie genau mit „rechts“ meint, ließ Hennig-Wellsow offen.

Offen bleibt auch, wie genau die Linke die Wähler in den kommenden knapp 100 Tagen noch von sich und ihrem Programm überzeugen will, das unter dem Titel „Zeit zu handeln: Für soziale Sicherheit, Frieden und Klimagerechtigkeit!“ steht.

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Inhaltlich bleibt es weitgehend bei Altbekanntem: Die Linke fordert in ihrem Programm, über das am Sonntag abgestimmt wird, einen Mindestlohn von 13 Euro, eine Mindestrente von 1200 Euro, mehr Geld für Pflegekräfte, eine Abschaffung der Schuldenbremse, kostenlose öffentliche Verkehrsmittel und einen bundesweiten Mietendeckel. Zudem sind eine einmalige Vermögensabgabe für die Kosten der Corona-Krise sowie eine Vermögenssteuer vorgesehen.

Weiter stehen ein Austritt Deutschlands aus der Nato im Programm sowie deren Ersetzung durch ein Sicherheitssystem unter Beteiligung Russlands. Auch Auslandseinsätze werden weiter abgelehnt. Mithin fehlt es in der Außen- und Sicherheitspolitik vor allem mit den Grünen an Schnittmengen. Doch die Linke scheint inzwischen selbst immer weniger zu glauben, dass dies nach der Wahl noch relevant sein könnte.

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