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Fallzahlen steigen deutlich: Können wir uns jetzt schon hohe Inzidenzen leisten? - n-tv NACHRICHTEN

Die Zahl der Neuinfektionen steigt kontinuierlich an, die vierte Corona-Welle trifft Deutschland im schlimmsten Fall bereits im Sommer. Gleichzeitig lassen sich immer weniger Menschen impfen. Kann das gutgehen, könnten wir jetzt schon hohe Inzidenzen wie in Großbritannien verkraften?

Die Corona-Fallzahlen gehen in Deutschland wieder deutlich nach oben, während sich zur gleichen Zeit der Impffortschritt stark verlangsamt. Zwar drohen keine Zustände wie Anfang des Jahres, aber das ist trotzdem eine gefährliche Entwicklung. Denn wenn sich die vierte Welle auftürmt, bevor die Bevölkerung ausreichend geschützt ist, könnte dies erneut zu zahlreichen schweren Erkrankungen und auch Todesfällen führen.

Zahlen steigen schneller als vor einem Jahr

Seit die Sieben-Tage-Inzidenz Anfang Juli einen Tiefstand von rund fünf Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern erreicht hat, steigen die Fallzahlen wieder stetig an. Der Wert ist mit 12,2 immer noch sehr niedrig - vor allem im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Doch das könnte sich rasch ändern, denn die Kurve steigt wesentlich steiler an als vor einem Jahr. Damals zählte Deutschland am 21. Juli einen Zuwachs von 432 Neuansteckungen im 7-Tage-Schnitt, gestern waren es 1438.

Im Oktober 2020 explodierten die Fallzahlen dann regelrecht. Anfang des Monats gab es im Sieben-Tage-Schnitt noch rund 2000 Neuinfektionen, am 1. November waren es bereits knapp 15.000. Doch da das Virus damals auf eine völlig ungeschützte Bevölkerung traf, ist so eine Entwicklung diesmal nicht zu erwarten - zumindest so lange, wie man nicht dem Vorbild Großbritannien folgt und alle Regeln fallen lässt.

Inzidenzen bei Jüngeren viel höher

Weil immerhin schon fast die Hälfte der deutschen Bevölkerung zweifach geimpft ist, sind auch die Gesamt-Inzidenzen an sich nicht vergleichbar. So sind die Fallzahlen jetzt bei den Jüngeren wesentlich höher als bei den Älteren, die bis Juni priorisiert ein Vakzin erhielten. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag bei den 20- bis 24-Jährigen in der vergangenen Woche schon bei 19, bei den über 60-Jährigen nur bei 4.

In Berlin, das aktuell mit fast 23 Fällen pro 100.000 Einwohner und Woche in Deutschland eine Spitzenposition einnimmt, hat die Inzidenz bei den 20- bis 24-Jährigen bereits fast 86 Fälle erreicht. Auch bei den benachbarten Altersgruppen darüber und darunter sind die Werte mit knapp 38 beziehungsweise rund 65 schon ziemlich hoch, während die Inzidenzen der über 60-Jährigen zwischen 0 und 5 Neuinfektionen verharren.

Delta-Variante mischt Karten neu

Doch obwohl jetzt fast 50 Prozent der Bevölkerung den vollen Impfschutz genießt, könnten die Neuinfektionen auch in Deutschland im Herbst wieder gefährliche Höhen erreichen, da die Delta-Variante (B.1.6.17.2) das Zepter übernommen hat.

Schon die Alpha-Mutante (B.1.1.7), die im Winter zur vierten Welle mit vielen Kranken und Toten führte, war wesentlich ansteckender als das ursprüngliche Sars-CoV-2-Virus, Delta ist noch gefährlicher. Denn die Variante ist nicht nur nochmal deutlich infektiöser, sondern hat auch sogenannte Escape-Mutationen, die es ihm ermöglichen, den Impfschutz teilweise zu umgehen. Damit bietet eine Dosis gegen die Variante keinen ausreichenden Schutz, und selbst vollständig Geimpfte können sich relativ häufig infizieren und möglicherweise das Virus weitergeben.

Simulator sieht Inzidenz Anfang Oktober bei 150

Wie Virologe Hendrik Streeck im ntv-Interview sagte, ist die Entwicklung der nächsten Wochen und Monate schwer vorhersehbar, aber auch er rechnet "deutlich" mit einer vierten Welle im Herbst. Dem Covid-19-Simulator der Universität des Saarlandes könnte die Sieben-Tage-Inzidenz am 1. Oktober bereits wieder über 150 liegen und Anfang November den Wert von 350 überschreiten.

Dabei ist in dem Modell ein Impffortschritt "eingepreist", der bei den 15- bis 35-Jährigen von einem sehr niedrigen Niveau aus bis Oktober weiter deutlich ansteigt, aber bei den Altersgruppen darüber bei einer Quote von rund 85 Prozent stagniert. Anfang Oktober wären dann etwas mehr als 70 Prozent der Bevölkerung durchgeimpft, die Quote würde dann aber nicht mehr steigen.

Hohe Impfquote entscheidend

Es handelt sich dabei um eine Modellierung, die mit Vorsicht zu genießen ist. Sie kann zutreffend sein, bei vielen Unsicherheiten aber auch mehr oder weniger daneben liegen. Der tatsächliche Fortschritt bei den Impfungen ist entscheidend dafür, ob Deutschland die vierte Welle relativ locker ausreitet oder nochmal hart von ihr getroffen wird.

Das RKI hat Modellierungen erstellt, die verschiedene Szenarien durchspielen. Das wichtigste Ergebnis: Bei zunehmender Dominanz der Delta-Variante sollte die Impfkampagne mit hoher Intensität weitergeführt werden, bis mindestens 85 Prozent der 12 – 59-Jährigen beziehungsweise 90 Prozent der über 60-Jährigen vollständig gegen Covid-19 geimpft sind.

Dann sollte es "in Kombination mit Basishygienemaßnahmen und einer geringfügigen Reduktion des Kontaktverhaltens im Herbst/Winter nicht mehr zu einem starken Anstieg der Covid-19-bedingten Intensivbettenbelegung kommen", heißt es im epidemiologischen Bulletin des RKI.

Impfmotor stottert

Das RKI schreibt auch, dass es entscheidend sei, die noch nicht geimpfte Bevölkerung zu motivieren, sich noch im Sommer impfen zu lassen. Das wird der Knackpunkt der Kampagne sein, aber es sieht derzeit nicht danach aus, als könne dieses Ziel erreicht werden.

Aktuell haben nur 48 Prozent der Einwohner Deutschlands den vollen Impfschutz. 60 Prozent haben mindestens eine Dosis erhalten und man kann davon ausgehen, dass die meisten von ihnen auch die zweite abholen werden.

Ansonsten ist die Impfbereitschaft offenbar stark gesunken beziehungsweise werden zahlreiche Menschen nicht erreicht. Mitte Juni wurden in Deutschland im Schnitt noch rund 860.000 Menschen täglich geimpft, jetzt sind es nur noch etwas mehr als 500.000 und der Trend zeigt weiter nach unten.

Viele über 60-Jährige noch ungeschützt

An einem Vakzin-Mangel kann es nicht liegen. Die Verfügbarkeit an Impfstoffen werde die Nachfrage schon bald "deutlich" übersteigen, stellten die Gesundheitsministerinnen und -minister von Bund und Ländern kürzlich fest.

Problematisch am lahmenden Impffortschritt ist nicht nur, dass die angestrebte Quote bis zum Herbst wohl weit verfehlt werden könnte. Es sind auch bedenklich viele ältere Menschen noch ungeschützt.

Bundesweit waren gestern erst 76,4 Prozent der über 60-Jährigen durchgeimpft. 84,6 Prozent haben mindestens eine Dosis erhalten. Das heißt, sehr viel mehr von ihnen sind derzeit offenbar nicht bereit, sich impfen zu lassen. Ein Beleg dafür ist, dass das RKI-Bulletin am 8. Juli veröffentlicht wurde. Einen Tag zuvor waren 65,7 Prozent der über 60-Jährigen vollständig geschützt und 83,1 Prozent von ihnen hatte eine Dosis erhalten.

Zu wenig neue Erstimpfungen

Es sind also nur sehr wenige Erstimpfungen hinzugekommen. Die vom RKI angenommene Impfakzeptanz dieser Altersgruppe von 94,8 Prozent scheint also zu hoch gegriffen oder die Menschen werden aus anderen Gründen nicht erreicht.

Mehr Bewegung gibt es bei allen anderen erwachsenen Deutschen, aber auch diese Gruppe ist noch weit von einer 85-prozentigen Quote entfernt. 46,9 Prozent der 18- bis 59-Jährigen haben bisher beide Impfdosen erhalten, 60,4 Prozent haben wenigstens eine im Arm. Hier wurden am 7. Juli 34 Prozent vollständig Geimpfte und 51,4 Prozent mit Erstdosis erfasst.

Einige Bundesländer hinken hinterher

Dabei gibt es größere regionale Unterschiede. So sind in Sachsen derzeit nur 68,6 Prozent der über 60-Jährigen und 41,2 der 18- bis 59-Jährigen zweimal geimpft. In Brandenburg sind es 70,8 und 41, 5 Prozent, in Sachsen-Anhalt 73,8 und 40,6 Prozent, Thüringen kommt auf 71,2 und 43,3 Prozent.

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Viele Covid-Patienten auf Intensivstationen sind auch jünger als 60 Jahre.

(Foto: DIVI)

Am gefährlichsten wird eine vierte Welle für die ungeschützten über 60-Jährigen, die laut DIVI-Intensivregister nach wie vor fast 60 Prozent der Covid-19-Intensivpatienten ausmachen. Doch auch die 50- bis 59-Jährigen belegen nahezu ein Viertel der Betten und die 40- bis 49-Jährigen dürfen sich mit einem fast zehnprozentigen Anteil ebenfalls nicht allzu sicher fühlen. Alle anderen Erwachsenen kommen auf nicht ganz 7 Prozent und nur 0,8 Prozent der Corona-Intensivpatienten sind Kinder und Jugendliche.

65 Prozent sind nicht genug

Entsprechend sind auch die Prognosen des RKI-Modells, falls die Impfquote bei den 12- bis 59-Jährigen nicht über 65 Prozent hinauskommt und sich das Verhalten der Menschen nicht ändert. Dann könnten bis April 2022 bis zu 12.000 Menschen wegen Covid-19 auf der Intensivstation landen. Bei 75 Prozent sinkt die Zahl laut Modell bereits auf unter 7.500, bei 85 Prozent unter 5000, bei 95 Prozent unter 3000.

Die Zahl der Todesfälle dürfte in einer starken 4. Welle ebenfalls wieder signifikant steigen, aber nicht so deutlich wie die Hospitalisierungen. Von allen bis zum 13. Juli gemeldeten 91.106 Corona-Toten waren 78.637 (86 Prozent) 70 Jahre und älter, der Altersmedian lag bei 84 Jahren. Die 60- bis 69-Jährigen kommen auf 8318 Todesfälle, die 50- bis 59-Jährigen auf 3093. In allen jüngeren Altersgruppen zusammen gab es bisher nur rund 1050 Covid-19-Tote.

Langzeitschäden noch nicht absehbar

Ein größeres Problem für unter 50-Jährige könnte Long-Covid beziehungsweise Post-Covid sein. Die Datenlage dazu, wie viele Menschen lange nach einer leichteren oder gar symptomlosen Erkrankung zum Teil schwere Symptome wie Erschöpfung, Gedächtnisstörungen oder Schwindelanfälle haben, ist allerdings noch sehr dünn. Die meisten Experten gehen davon aus, dass etwa 10 Prozent der Covid-19-Fälle auf die eine oder andere Weise davon betroffen sind. Die Selbsthilfe-Organisation Langzeit-Covid fürchtet bis Ende 2021 bis zu 100.000 Fälle.

Für Jördis Frommhold ist es dringend notwendig, dass man sich in Deutschland mehr auf die Post-Covid-Patienten einstellt. Sie leitet die Abteilung für Atemwegserkrankungen und Allergien in der Median Klinik Heiligendamm, die sich auf die Rehabilitation von Covid-19-Patienten mit Langzeitfolgen spezialisiert hat. Bis Mai hatten sich bereits 700 Betroffene aus ganz Deutschland an sie gewandt. "Es spielt eine entscheidende Rolle, dass Akut-Medizin und Reha-Wissen miteinander verknüpft werden", sagte sie ntv.de. Dabei gehe es auch darum, Post-Covid erstmal richtig zu diagnostizieren.

Kaum Daten zu Long-Covid bei Kindern

Noch weniger ist über Long-Covid bei Kindern bekannt. Es gäbe schon Patienten, die doch eine massive Symptomatik haben, aber nicht sehr viele, sagte Kinderarzt Johannes Hübner ntv.de. Er ist der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI).

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Ein Problem sieht Hübner im breiten Spektrum der Long-Covid-Symptome. Milde Symptome wie Schlaf- und Konzentrationsstörungen seien sehr schwer von Dingen zu differenzieren, "die wir möglicherweise alle haben, die halt einfach die Belastungssituation im Rahmen der Pandemie reflektieren", sagt er.

Ein weiterer Punkt sei, wie man Long-Covid definiere, ob man Symptome noch nach fünf, neun oder zwölf Wochen feststellen könne. "Je länger die Zeiträume sind, desto mehr verschwindet natürlich davon", so Hübner. Die DGPI sammelt Daten zu Post-Covid bei Kindern und Jugendlichen, hat aber bisher noch kein Ergebnis veröffentlicht.

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