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Stiko-Empfehlungen: „Wir machen uns als Impfärzte völlig unglaubwürdig“ - WELT

Geht es um die Ständige Impfkommission (Stiko), fällt Impfärzten quer durch die Republik nur noch ein Wort ein: Katastrophe. Damit sind weniger die inhaltlichen Empfehlungen gemeint, sondern die Kommunikation. „Die Stiko versteht nicht, dass sie mit ihren Aktionen die Arztpraxen in Deutschland komplett lahmlegt“, sagt Christian Kröner, Hausarzt im bayerischen Neu-Ulm, genervt am Telefon.

Vor wenigen Tagen beschloss das Gremium, dass Menschen, die ihre erste Impfung mit AstraZeneca bekommen haben, nun bei der zweiten Dosis den Stoff von Biontech oder Moderna erhalten sollen. Die Kombination mit einem der beiden Hersteller erhöhe die Wirksamkeit, hieß es. Zudem könne der Abstand zur Zweitimpfung bei solchen sogenannten Kreuzimpfungen von zwölf auf vier Wochen verkürzt werden.

Impfarzt Christian Kröner
Impfarzt Christian Kröner
Quelle: picture alliance/dpa

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ist nach eigenen Angaben vorab nicht über die Entscheidung der Stiko informiert worden. Auch Kröner traf die Nachricht völlig unvorbereitet. Noch am selben Abend setzte er sich an den Computer und aktualisierte seine Homepage.

Mit dicken roten Buchstaben schrieb er: „Wir können und werden Zweitimpftermine aktuell nicht auf einen anderen Impfstoff abändern, da die Impfdosen bereits bereitliegen. Rufen Sie uns hierfür nicht an!“ Dahinter schrieb er, dass eine doppelte Impfung AstraZeneca genauso wie eine Kombinationsimpfung einen über 90-prozentigen Schutz vor Tod und schwerem Corona-Krankheitsverlauf biete.

Doch der Warnhinweis half kaum. Am kommenden Tag riefen innerhalb von vier Stunden 100 Personen in der Praxis an und blockierten die Leitung für kranke Patienten. Alle fragten, ob sie AstraZeneca gegen Biontech tauschen und den Termin vorziehen könnten. Doch die Praxismitarbeiter wiegelten ab.

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Das Problem: Das Team hat bis Ende August bereits 1600 Zweittermine mit AstraZeneca vergeben. Da die Praxis im Vergleich zu anderen in sehr großem Umfang impft, wurden zur Sicherheit schon mal 1000 Dosen vorbestellt und liegen bereits im Kühlschrank. Wenn die Termine nun auf Biontech umgestellt würden, blieben die Dosen ungenutzt. „Ich werde wegen der Stiko nicht 1000 Dosen Astra auf den Müll werfen“, sagt Kröner. Hätte er vorher gewusst, dass eine Empfehlung in die Richtung kommt, hätte er so viele Dosen gar nicht erst bestellt.

Beim Berliner Hausarzt Hans-Walter Römer ist der Frust ebenfalls groß. „Es ist unmöglich, was die Stiko da veranstaltet.“ In seiner kleinen Praxis wurden vergangene Woche 60 Impfungen durchgeführt, ein Teil der Vakzine liegt auf Lager. „Die Dosen von Astra kann ich jetzt in den Müll schmeißen. Die will doch kein Mensch mehr haben.“ Ob er allen Interessenten stattdessen Biontech anbieten könne, wisse er noch nicht. Dies hänge davon ab, wann wie viele Dosen geliefert würden.

Auch der Arzt Hans-Walter Römer ist von der Stiko genervt
Auch der Arzt Hans-Walter Römer ist von der Stiko genervt
Quelle: Hans-Walter Römer

Nicht nur die Hausärzte sind angesichts der kurzfristigen Stiko-Empfehlung aufgebracht. „Vergangene Woche habe ich den Leuten noch gut zugeredet, wie toll doppelt Astra vor Corona schützt und dass die Älteren aus Solidarität mit den Jungen auf Biontech verzichten sollten“, erzählt Stefan Steinmetz, Koordinator des Impfzentrums in Essen.

Täglich werden hier 2500 bis 3000 Menschen geimpft. Nach der neuen Empfehlung sei diese Argumentation nun dahin. „Wir machen uns als Impfärzte völlig unglaubwürdig.“ Natürlich sei es richtig, dass die Stiko sich den wissenschaftlichen Entwicklungen anpasse. Doch sei es für die Praktiker schwer, die zum Teil einander widersprechenden Neuerungen den Bürgern zu erklären.

Impfstoff-Überfluss sei nie eingetreten

Die für das Impfzentrum zuständige Apothekerin habe nun am Freitag beim Gesundheitsministerium in Nordrhein-Westfalen angerufen und einen Antrag auf pro Tag 500 weitere Dosen von Biontech und Moderna gestellt, berichtet Steinmetz. Wenn diese einträfen, sei das Impfzentrum bereit, sich an die Empfehlung der Stiko zu halten.

Auf Zusagen von Gesundheitsminister Spahn, im Laufe des Juli werde es einen Überfluss an Biontech-Dosen geben, verlässt sich Steinmetz dabei längst nicht mehr. „Die Schwemme wurde uns erst für den April angekündigt, dann für den Mai und später für den Juni“, sagt er. „Doch die Welle, die angekündigt wurde, kam nie.“

Diesen Eindruck teilen Leiter von Impfzentren aus unterschiedlichen Ecken der Republik. „Ich glaube nur noch den Lieferzusagen, die wirklich in unseren Kühlschränken angekommen sind“, moniert Michael Hubmann, Leiter des Impfzentrums im nordbayerischen Fürth.

„Ich habe de facto keine Chance, 2800 Termine vorzuziehen, wenn ich jeden Tag voll ausgelastet bin“, sagt Hubmann
„Ich habe de facto keine Chance, 2800 Termine vorzuziehen, wenn ich jeden Tag voll ausgelastet bin“, sagt Hubmann
Quelle: Michael Hubmann

In den vergangenen zwei Monaten sei nun endlich so viel Impfstoff gekommen, dass das Impfzentrum unter Maximalauslastung fahren kann, also 1000 Impfungen pro Tag verabreicht. „Wir haben derzeit weder Mangel noch Überhang“, so Hubmann. Kürzlich seien nun auch alle Impfeinladungen an die dritte Priorisierungsgruppe rausgegangen. In Bayern wurde die gesetzliche Impfreihenfolge in den Zentren erst vergangene Woche abgeschafft.

Inwieweit Hubmann der Empfehlung der Stiko folgt, will er von der noch ausstehenden Anordnung des Landes abhängig machen – insbesondere bei der Frage der vorgezogenen Impfintervalle. Aktuell warten in Fürth 2800 Patienten auf eine Zweitimpfung mit AstraZeneca. „Ich habe de facto keine Chance, 2800 Termine vorzuziehen, wenn ich jeden Tag voll ausgelastet bin“, so Hubmann.

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Er würde sich wünschen, dass das Pandemiemanagement nicht nur die Bewertung wissenschaftlicher Daten einbeziehe. „Man muss sich auch die Frage stellen: Was ist überhaupt machbar? Wir hätten zur Vorbereitung vorab von der Stiko Infos bekommen müssen, so eine Entscheidung fällt ja nicht vom Himmel.“ Hinzu komme, dass ihm die zunehmende Zahl der Terminabsagen Sorgen bereite. „Die Leute werden überaus sorglos. Wir erleben eine enorme Impfmüdigkeit.“

Gegen nicht angetretene Termine kämpft auch Benjamin Hilger aus Bad Kreuznach, Impfkoordinator und Sprecher der Kreisverwaltung. „In den vergangenen drei Wochen haben die Absagen gigantisch zugenommen“, sagt Hilger.

Benjamin Hilger im Impfzentrum
Benjamin Hilger im Impfzentrum
Quelle: Benjamin Hilger

Für kommenden Samstag seien etwa Mitte vergangener Woche zunächst alle rund 750 Impftermine vergeben worden. Als Hilger am Montagmorgen ins System schaute, waren 250 plötzlich storniert und damit wieder frei. Perspektivisch rechnet Hilger mit immer weiter sinkendem Bedarf. Für die vorletzte Juli-Woche etwa wurden dem Impfzentrum 4000 Dosen Moderna für Erstimpftermine zugeteilt. Terminiert sind jedoch bisher nur 1800. Der Impfkoordinator geht nicht davon aus, dass die Zahl noch nennenswert steigen wird. „Wir haben dann mehr Dosen, als wir brauchen.“

Problematisch sei zudem, dass ein Teil der Menschen den Termin gar nicht erst absage. „Bei den Erstimpfungen tauchen unabhängig vom Hersteller zehn bis 20 Prozent gar nicht auf.“ Im Gegensatz zu anderen Impfzentren und Hausarztpraxen sei die Verlässlichkeit bei Zweitimpfungen deutlich höher – die Quote wahrgenommener Termine liege hier bei etwa 95 Prozent.

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Hilger vermutet, dass sich viele Menschen von Anfang an mehrgleisig fürs Impfen angemeldet haben: beim Hausarzt, beim Betriebsarzt und im Impfzentrum. Wenn die Betroffenen vorher kurz durchrufen würden, wäre dies auch kein Problem, und die Termine könnten neu vergeben werden. Doch ohne Absage entstünden nun Leerläufe im Impfzentrum – für je 100 nicht wahrgenommene Termine könne man mit einer Öffnungsstunde rechnen. „Die Kosten pro Stunde dürften dabei ganz grob geschätzt bei 1000 bis 1500 Euro liegen.“

Die aktuelle Debatte über das Verhängen von Bußgeldern hält Hilger trotzdem für verfehlt. Mehrere Politiker, darunter der Unionsfraktionsvize im Bundestag Thorsten Frei (CDU), hatten am Wochenende eine Sanktionierung von nicht abgesagten Terminen gefordert. „Bei einem Bußgeldverfahren kann der Betroffene Stellung beziehen und etwa auf einen Krankheitsfall verweisen. Dies zu überprüfen, wäre enormer Aufwand“, sagt Hilger. Außerdem gelte: Impfen ist und bleibe freiwillig.

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Ganz anders hingegen argumentiert Hausarzt Kröner. „Wir sollten über Bußgelder nachdenken. Das ist diese typisch deutsche Vollkasko-Mentalität: Ich lege die Karte hin und bekomme dafür alles, kostet ja nichts.“ Auch bei Zahnärzten und Physiotherapeuten sei es üblich, eine Ausfallgebühr zu erheben. An einem Tag seien bei ihm in der Praxis 26 Personen nicht aufgetaucht. Neben den anfallenden Kosten sei dies auch wegen des Verfalldatums der Dosen problematisch.

Den sinkenden Bedarf bekommt Kröner mit voller Wucht zu spüren. „Wir haben inzwischen einen großen Impfstoffüberhang, weil kaum jemand mehr zum Impfen kommen will.“ In Spitzenzeiten verimpfte er bis zu 850 Dosen die Woche, momentan seien es um die 250. Rund 90 Prozent seiner Impftermine der vergangenen 14 Tage habe er an Leute unter 18 Jahren vergeben.

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Quelle: WELT

Für Mittwoch hat Kröner einen Slot für 200 Impfungen mit dem Vakzin von Johnson & Johnson für Erwachsene – gebucht wurden bisher 30 Termine, obwohl hier nur eine Spritze für den vollständigen Impfschutz notwendig ist. Kröner hat sogar extra einen Aufruf auf Twitter gestartet, jedoch ohne Erfolg. Nun hat er 130 Termine wieder rausgenommen, damit sein Personal nicht unnötig Zeit mit Warten vergeudet.

Kollegen berichteten ihm von ähnlichen Entwicklungen. „Wir verstehen alle nicht, woran es liegt.“ Die Erklärung mit dem Urlaub ziehe nicht in Bayern, weil die Ferien erst Ende Juli beginnen. Wahrscheinlich, so Kröner, seien es die niedrigen Inzidenzen und das Gefühl der Leute, die Pandemie sei bereits vorbei.

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