Analyse
Stand: 08.09.2021 20:16 Uhr
Angesichts der schwachen Umfragewerte greift Kanzlerin Merkel stärker als geplant in den Wahlkampf ein. Denn Laschet kann jede Hilfe brauchen. Hilft das? Meinungsforscher sind skeptisch.
Was ist bloß mit Merkel los, fragten sich viele, als sie überraschend am Dienstag die mutmaßlich letzte Bundestagssitzung dieser Legislatur zur Wahlarena machte. Ein geradezu präsidialer Führungsstil wird ihr gern attestiert. Sie wollte sich eigentlich aus dem Wahlkampf um ihre Nachfolge raushalten. Und nun das.
Wenn es sein muss, korrigiert Merkel ihre Pläne, dafür ist sie bekannt. Offenbar reichte es ihr jetzt mit dem Scholz-Kurs, sie zu kopieren. Hinzu kam Unmut in der Partei, dass sie CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet hängen lasse. Und nun passiert es so auf den letzten Metern ihrer Kanzlerschaft, ausgerechnet auch noch direkt im Parlament, das sie mit Stimmen der SPD zur Kanzlerin gewählt hatte. Sie warnt vor Rot-Grün-Rot und kritisert ihren - stets loyalen - Vizekanzler Olaf Scholz.
Dem traurigen Wahlkampf nicht weiter tatenlos bleiben?
Was war geschehen? Mochte sie das Trauerspiel des Laschet-Wahlkampfes nicht mehr länger tatenlos hinnehmen? Sicher, ihrer Partei geht es schlecht, nicht erst seitdem erste Umfragewerte aktuell nun unter die zwanzig Prozent purzeln. Da hätte ihr schon früher mal der Kragen platzen können, angesichts des Um-Sich-Selbst-Kreisens ambitionierter CDU-Männer, spätestens seitdem Annegret Kramp-Karrenbauer im Februar 2020 als Parteichefin entnervt hingeworfen hatte.
Erst übernimmt er die "Merkel-Raute", dann das
Schon länger war der Kanzlerin missfallen, dass SPD-Kanzlerkandidat Scholz ihre Erfolgsrezepte kopierte - sich etwa auf der Titelseite des Magazins der "Süddeutschen Zeitung" mit der berühmt gewordenen Geste, der "Merkel-Raute" ablichten ließ. Er laufe herum wie ein Merkel-Klon und setze gleichzeitig zuletzt in der von ihm mit beschlossenen Corona-Politik gar populistische Akzente, heißt es in CDU-Kreisen: Scholz hatte die bereits Geimpften mehrfach als "Versuchskaninchen" bezeichnet. Jedoch immer im Zusammenhang damit, für die Impfung zu werben: "Es ist bei uns gut ausgegangen - betrachtet uns (Geimpfte) als eure Versuchskaninchen", rief er bei einer SPD-Veranstaltung in Richtung der Impfskeptiker. Ironie sei dies gewesen, sagte er nachträglich.
Merkel wiederum nutzte dies im Bundestag als Vorlage für ihre erste heftige öffentliche Scholz-Kritik: Die Politik müsse Menschen vom Impfen überzeugen, "und nicht mit schiefen Bildern von Versuchskaninchen." Um gleichzeitig vor einer rot-grünen Bundesregierung mit Unterstützung der Linkspartei zu warnen, demgegenüber eine unionsgeführte mit Armin Laschet für "Maß und Mitte" stehe. Ein Slogan, mit dem Merkel gern warb.
Langes Zögern, in den Wahlkampf einzugreifen
Eigentlich müsste die CDU nun Angela Merkel besonders dankbar sein: Darauf hatte die Partei lange gewartet. Mancher hatte sich früher eine klarere Unterstützung Merkels im Wahlkampf gewünscht - nun tritt sie sogar in ihrem ehemaligen Wahlkreis gemeinsam mit Laschet an - fünf Tage vor der Wahl will sie sich mit ihm am 21. September in Stralsund präsentierten. Dass der Termin gerade erst bekannt gemacht wird, zeigt ihr Zögern, überhaupt als Wahlkämpfende einzugreifen.
Doch zweieinhalb Wochen vor der Bundestagswahl verfestigt sich der Trend hin zu Scholz immer weiter. Wahlforscher sehen keine Anzeichen, die noch eine Trendwende für den auch in seiner eigenen Partei-Anhängerschaft unbeliebten Kandidaten Laschet herbeiführen könnten. Die Wahrscheinlichkeit sinke zunehmend, sagt Nico Siegel vom Meinungsforschungsinstitut infratest dimap, das für die ARD regelmäßig den Deutschlandtrend erstellt: "Erstens zündet der Kanzlerkandidat nicht, im Gegenteil: seine sehr niedrigen Popularitäts- und Kompetenzwerte sind mit das zentrale Problem in diesem Wahlkampf", so der Demoskop. Zweitens tue sich die Union bis heute schwer, bei wichtigen Themen inhaltlich zu punkten: Drittens schließlich fehle die Geschlossenheit.
Könnten Merkels Beliebtheitswerte noch abfärben?
Derzeit regiert also bei der CDU das Prinzip Hoffnung auf eine späte Wende und, dass mit Merkels stärkerer Präsenz auch ein paar Prozentpunkte ihrer überragenden Beliebtheitswerte abfärben könnten. Sie ist dazu nun bereit - nicht nur weil sie sich darüber ärgert, von Scholz vereinnahmt zu werden. Durch die CDU ist sie das geworden, was sie ist - das hat sie nicht vergessen. Eine am Boden zerstörte Union in dem Moment, in dem sie nach 16 Jahren Kanzlerschaft abtritt, wolle sie nicht, heißt es in ihrem Umfeld.
In der Parteizentrale will man den Kampf um den ersten Platz nicht verloren geben. Merkel müsse es jetzt reißen, und neue Narrative - weg von der Person Laschet. Denn dass er noch aus dem Umfragekeller seiner persönlichen Eignungs- und Beliebtheitswerte herausfindet, glaubt kaum einer mehr.
Armin Laschet beim Wahlkampf in Erfurt. Bild: REUTERS
"Zukunftsteam" soll helfen
Deswegen soll nun das "Zukunftsteam" helfen - sowie die Botschaft, dass am Wahltag keine Personen, sondern Parteien zur Wahl stehen. Und wer wisse schon, ob nicht ein paar SPD-Wählerinnen und -Wähler zuhause blieben, wenn Scholz bereits im Vorfeld als Sieger gilt, aber zusätzliche noch zögernde Laschet-Skeptiker doch lieber der Union ihre Stimme geben, um eine rote Kanzlerschaft zu verhindern.
Geradezu händeringend wird nach einem Thema gesucht, mit dem sich die CDU noch prominent verbinden lässt. Klimaschutz wird es nicht mehr werden. Und ausgerechnet bei den Themen Arbeit, Soziales und Gesundheit fehlt ein Typ Norbert Blüm, eine Art soziales Gewissen. Laschet dachte womöglich zu lange, er könnte das alles gleichzeitig für die Union sein.
Absetzbewegungen sichtbar
Doch auch in der CDU ist klar, dass es nun möglicherweise nur noch um Platz Zwei geht: Optimisten dort sagen dann, eine Jamaika-Koalition wäre dann immer noch drin: Einer der letzten Joker, die Laschet hat, ist ein überaus gutes Verhältnis zu FDP-Chef Christian Lindner. Doch auch dieser rückt merklich von der Union ab. Und auch Jens Spahn, der noch treu an Laschets Seite um den CDU-Vorsitz für ein "Modernisierungsjahrzehnt" warb, fällt im Wahlkampf derzeit eher durch Abwesenheit auf: Absetzbewegungen allenthalben, anders lässt sich das nicht interpretieren. Um Laschet wird es einsamer.
Trotz Merkels Hilfe: Liefern muss jetzt Laschet
Jetzt muss Laschet liefern, über seine bisherige Wahlkampform weit hinauswachsen - und bei Auftritten wie dem Triell am kommenden Sonntag punkten. Auch für ihn persönlich geht es um alles: Denn im Falle eines erdrutschartigen Verlustes der ersten Post-Merkel-CDU schließt man persönliche Konsequenzen noch am Wahlabend für Laschet und CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak nicht mehr aus.
Wohlmeinende in der Partei vergleichen Laschet noch mit der Filmfigur Rocky: Eine Art deutscher Sylvester Stallone, der zunächst chancenlos immer wieder angeschlagen im Boxring hängt, um dann wieder aufzustehen - und am Ende doch zu gewinnen.

Meinungsforscher über CDU-Wahlkampf
tagesschau.de: Wie könnte Laschet das Blatt noch wenden?
Nico Siegel: Der aktuelle Trend spricht aus mehreren Gründen gegen die Union. Ihn zu drehen ist grundsätzlich möglich, die Wahrscheinlichkeit sinkt aber zunehmend. Erstens zündet der Kanzlerkandidat nicht, im Gegenteil: Seine sehr niedrigen Popularitäts- und Kompetenzwerte sind mit das zentrale Problem in diesem Wahlkampf.
Zweitens tut sich die Union bis heute, bei wichtigen Themen schwer, inhaltlich zu punkten: Im Team Laschet fehlt ein prominenter Kopf, der als Experte für Sozial- und Arbeitsmarktpolitik der SPD Kampagne mit starker Fokussierung auf Themen wie Mindestlohn oder sichere Renten Paroli bieten könnte. Drittens schließlich fehlt die Geschlossenheit, an der Spitze, über die Parteiebenen hinweg. Der starke Gegenwind in der Stimmung der Bevölkerung erschwert, dass ein gemeinsamer Ruck durch die Partei geht.
tagesschau.de: Gab es schon mal einen derart volatilen Wahlkampf?
Siegel: Ausschläge wie derzeit gab es schon bei der Bundestagswahl 1994, damals zugunsten der CDU/CSU unter Helmut Kohl - und zum Leidwesen der SPD mit ihrem Kanzlerkandidaten Rudolf Scharping. Und 2002 und 2005 gelang es der SPD mit Gerhard Schröder an der Spitze, während weniger Monate, in unseren Umfragen sieben Prozentpunkte zuzulegen. Die aktuelle Volatilität geht in mehrere Richtungen: Weil das Parteisystem sich ausdifferenziert hat, fragmentierter ist, der Anteil der Wahlberechtigten mit verfestigter Parteibindung, rückläufig ist.
tagesschau.de: Wie groß ist das Lager der aktuell noch Unentschlossenen?
Siegel: Um die 30 Prozent haben aktuell noch nicht die folgenden Fragen für sich beantwortet: Gehe ich wählen oder nicht? Wen wähle ich mit Erst- und Zweitstimme? Die Unentschlossenen sind aber nicht alle nach "allen Richtungen offen". Insofern wäre es für jede Partei unrealistisch davon auszugehen, dass die große Mehrheit hier am Ende genau einer Partei zuneigen wird.
Nico A. Siegel ist Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap.
https://ift.tt/3E1RB7l
Deutschland
Bagikan Berita Ini
0 Response to "Kanzlerin im Wahlkampfmodus: Merkels Nothilfe | tagesschau.de - tagesschau.de"
Post a Comment