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Gesundheitssystem & Corona: Mehr Geld, höherer Anreiz für Kriminelle - WELT

Unsaubere Deals bei Masken, Rechnungen für Corona-Tests, die es nie gab, Corona-Hilfen, die ohne Anlass eingestrichen wurden, und zuletzt der Verdacht, dass ein Teil staatlich subventionierter Intensivbetten tatsächlich nie entstanden ist – die Bekämpfung der Pandemie kostet nicht nur viele Milliarden Euro. Durch Abrechnungsbetrug und Korruption versickern Milliarden, ohne Wirkung für Patienten und weiterer Betroffener zu entfalten.

Zu diesem Ergebnis kommen der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) und die auf Kriminalität im Gesundheitswesen spezialisierten Experten des Wirtschaftsprüfungsunternehmens PWC.

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Die Wirtschaftsprüfer hatten bereits auf Basis der Zahlen bis zum Ausbruch von Corona Anfang 2020 festgestellt, dass Betrüger immensen Schaden im deutschen Gesundheitssektor anrichten. „Abrechnungsbetrug führt bei den gesetzlichen und privaten Krankenversicherungen jährlich zu Schäden in Milliardenhöhe – für die letztlich die Versicherten aufkommen müssen“, lautete das Fazit der PWC-Studie zum Thema.

„Im Vergleich zu unserer ersten Analyse aus dem Jahr 2012 können wir bei Abrechnungsbetrugsdelikten eine deutliche Zunahme feststellen. Und was wir erfassen, ist nur ein Ausschnitt. Das Dunkelfeld ist riesig“, sagt nun PWC-Partner und Forensiker Gunter Lescher WELT. „Die Zahl von Betrugsfällen dürfte mit der Corona-Pandemie noch einmal deutlich gewachsen sein.“ Auch nach Einschätzung der Vertreter der gesetzlichen Kassen sind die finanziellen Schäden infolge der Pandemie aufgrund von Betrug sowie nicht vorsätzlicher Fehlabrechnungen massiv gestiegen.

„Viele Schnittstellen, die zu Schwachstellen werden können“

In das deutsche Gesundheitswesen werden jedes Jahr Milliarden gepumpt, es gehört zu einem der anerkanntesten der Welt – aber auch zu einem der teuersten Systeme. Bei 411 Milliarden Euro lagen die Gesundheitsausgaben in Deutschland 2019. Das sind 4944 Euro pro Einwohner und entspricht einem Anteil am Bruttoinlandsprodukt von 11,9 Prozent. Mehr als die Hälfte der Ausgaben (57 Prozent) entfallen dabei auf die gesetzlichen Krankenversicherungen.

Diese Summen ziehen Betrüger an. „Der Gesundheitssektor ist besonders anfällig für Betrug und Korruption“, sagt Forensiker Lescher. „Das System ist komplex, es geht um viel Geld, und es gibt mit den vielen Beteiligten wie den Leistungserbringern, den Versicherern und Abrechnungsdienstleistern viele Schnittstellen, die zu Schwachstellen werden können.“

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Schon vor der Corona-Pandemie hatte laut der PWC-Umfrage 2019 und 2020 mehr als die Hälfte der gesetzlichen Kassen jeweils mindestens 100 Betrugsfälle im Jahr mit einem Gesamtschaden von überwiegend mehr als 500.000 Euro gemeldet. Bei den privaten Kassen meldeten drei Viertel einen Gesamtschaden von mehr als 500.000 Euro durch Abrechnungsbetrug – in beiden Fällen deutliche Steigerungen gegenüber dem Jahr der ersten Studie 2012.

Mit Ausbruch von Corona sind viele weitere Milliarden zur Eindämmung der Pandemie geflossen, damit steigen nach Einschätzung der Experten naturgemäß die Betrugsfälle und die dadurch entstandenen Schäden. „Die Gründe dafür sind vielfältig, Existenznöte, hoher Druck auf die Verantwortlichen, auch in Pandemiezeiten gute Zahlen zu liefern, vor allem aber zu wenig Kontrollen“, sagt Lescher.

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Es sei nachvollziehbar, dass in Ausnahmesituationen schnell reagiert werden müsse und auch unkonventionelle Lösungen gefunden werden müssten, um einer Herausforderung wie Corona Herr zu werden. „Was da geleistet wurde, sollte ausdrücklich anerkannt werden. Aber es darf nicht zulasten der Überprüfungen von Ausgaben gehen – und das ist es. Die Prüfverfahren müssen deutlich nachgeschärft werden“, fordert der PWC-Experte für Wirtschaftskriminalität.

PWC hatte wiederholt kritisiert, dass die gesetzlichen Kassen Verdachtsfälle nicht nachhaltig genug verfolgten. Die Bereitschaft, Hinweisen von außen auf kriminelle Machenschaften nachzugehen, habe „spürbar nachgelassen“, heißt es im jüngsten Bericht der Wirtschaftsprüfer. Und das trotz steigender Betrugsversuche. Nur etwas mehr als die Hälfte der befragten Kassen habe angegeben, dass sie „Hinweise konsequent verfolgt“.

Kontrollmöglichkeiten per Gesetz zurückgefahren

Ein Grund dafür sind allerdings auch die Vorgaben der Bundesregierung. Die hatte nämlich zum Beispiel im Bereich der Krankenhäuser dafür gesorgt, dass die Zahl der Abrechnungskontrollen durch die Kassen deutlich zurückgefahren werden muss.

Bis zum Ausbruch der Pandemie prüften die gesetzlichen Krankenkassen im Durchschnitt 17 Prozent aller durch die Kliniken eingereichten Abrechnungen stichprobenartig. Ergaben die sogenannten Plausibilitätsprüfungen, bei denen die Daten durch Computersysteme gecheckt wurden, Auffälligkeiten, wurden Nachprüfungen eingeleitet. Dabei stellte sich regelmäßig heraus, dass im Schnitt jede zweite Abrechnung der Krankenhäuser falsch, also überhöht war. Zum Teil aufgrund von Betrug, in aller Regel aber infolge nicht vorsätzlicher Fehler.

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Diese Prüfungen spülten viele Millionen Euro zurück zu den gesetzlichen Kassen, die damit wieder für die Mitglieder zur Verfügung standen. Ende 2019 wurde allerdings für das Jahr 2020 eine maximal zulässige Prüfquote eingeführt und auf 12,5 Prozent festgelegt. Wenige Wochen später wurde mit dem Krankenhausentlastungsgesetz die maximal zulässige Prüfquote von 12,5 Prozent auf fünf Prozent reduziert. Das galt rückwirkend auch für das erste Quartal 2020.

Obwohl also mehr Geld zur Verfügung steht, sich Betrügern mehr Chancen bieten, wurden die Kontrollmöglichkeiten gesetzlich beschränkt. „Die Absenkung der Prüfquote auf fünf Prozent kostet unsere Beitragszahler schätzungsweise zwei Milliarden Euro pro Jahr“, sagt ein Sprecher des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenkassen. So viel entgehe den Kassen an Nachforderungen, die sich aus den Überprüfungen ergäben.

„Klares Bild“ zu Intensivbetten fehlt weiterhin

Kontrollen zurückzufahren und damit Personal, das gegen Corona ankämpft von Bürokratie zu entlasten, ist nachvollziehbar. Anderseits ist diese Entscheidung angesichts vieler offener Fragen zur korrekten Verwendung der Mitgliedsbeiträge und Steuermittel in der Pandemie brisant. Zum Beispiel bei den Intensivbetten.

Seit Wochen wird darüber diskutiert, ob Betten, die subventioniert wurden, auch tatsächlich eingerichtet worden sind. Die GKV beklagt, dass mindestens 2000 Betten „verschwunden“ seien, für die es Geld aus dem Gesundheitsfonds gegeben habe, in den die Versicherten und der Bund einzahlen.

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Die Krankenhäuser weisen den Vorwurf zurück, belegen konnte ihn die GKV bislang nicht – weil es keine Kontrollen und damit keinen Überblick gibt. Zuständig dafür wären die Bundesländer, ihnen obliegen die Investitionen in die Krankenhausinfrastruktur. Doch bislang seien dort „keine Auffälligkeiten“ festgestellt worden, erklärten die Gesundheitsministerien mehrerer Länder auf Anfrage.

„Über mögliche Betrugsfälle bei den Abrechnungen von Intensivbetten wird derzeit viel spekuliert, aber ein klares Bild gibt es nicht. Das müssen die Beteiligten, Kassen, Kliniken und Politik jetzt aufarbeiten“, fordert PWC-Partner Lescher. „Die Abrechnungen müssen zusammen mit den rechtlichen Rahmenbedingungen beim Aufbau der Betten genau analysiert werden. Nach meinem Verständnis wurde das bislang nicht getan. Das ist aber nötig, um die Diskussion zu beenden und Klarheit zu schaffen.“

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